Shanghai, China, 15. Oktober 2018 – Industrie 4.0 ist heute bereits bei vielen Unternehmen rund um den Globus angekommen – und zwar nachhaltig. Das Zeitalter der Digitalisierung zieht auch die Textilwelt in seinen Bann, etwa mit der Herstellung individualisierter Bekleidung innerhalb weniger Stunden in Microfactories oder mit kostenoptimierter, selbstgesteuerter Produktion auf Basis von vernetzten Systemen und Datenanalyse. Zugleich gibt es Herausforderungen, die im digitalen Turbotakt wieder auf die Bremse treten – Datenschutz und Datensicherheit sind nur zwei Themen hiervon.
Bildunterschrift:
Die Texturiermaschinen von Oerlikon Barmag sind digital vernetzt, um eine reibungslose Produktion von Qualitätsgarnen zu gewährleisten.
Revolution oder Evolution?
Die Analysten der Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PWC) staunten: Ihre 2016 erschienene Studie „Industry 4.0: Building the digital enterprise“ zeigte auf, dass viele Unternehmen weltweit bereits Ernst mit der Digitalisierung machen. Die mehr als 2.000 teilnehmenden Unternehmen aus neun Industriebranchen in 26 Ländern planten schon im Erhebungszeitraum im Jahre 2015, ihren Digitalisierungsgrad innerhalb der folgenden fünf Jahre bis 2020 durchschnittlich von 33 Prozent auf 72 Prozent steigern zu wollen. Dazu wollen diese Unternehmen jährlich etwa fünf Prozent ihres Umsatzes investieren – ein Volumen von zusammen 907 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Sie erwarten dafür Kosteneinsparungen von 3,6 Prozent und Umsatzzuwächse von im Schnitt 2,9 Prozent pro Jahr.
Hohe Investitionen in die Digitalisierung
Diese Tendenz gilt nicht nur für Unternehmen in Industriestaaten, sondern auch für Firmen aus Schwellen- und Entwicklungsländern – allerdings kann die PWC-Studie dabei unterschiedliche Ziele herausfiltern. In Deutschland, Skandinavien und Japan gehe es primär um den Ausbau von betrieblicher Effizienz und Produktqualität. In den USA wolle man vorwiegend neue digitale Geschäftsmodelle entwickeln und das digitale Produkt- und Serviceangebot erweitern. China erhoffe sich Effekte durch die Automatisierung und Digitalisierung arbeitsintensiver Fertigungsprozesse.
Herausforderungen für Unternehmen sieht die Studie vor allem noch in der digitalen Qualifizierung bzw. Akquisition von kundigen Mitarbeitern sowie der Etablierung einer passenden internen Organisation und „digitalen Kultur“. Dies sei nötig, um mit Hilfe von Datenanalyse besser planen und optimieren zu können und so das volle Potenzial von Industrie 4.0 zu nutzen.
Textilindustrie 4.0: Status quo
Revolutionäre Visionen eröffnet die Digitalisierung auch der Textilindustrie: Kunden können heute bereits online individuelle Kleidung konfigurieren, bestellen und in kürzester Zeit geliefert bekommen. Diese Produktionsform wird zudem zunehmend rentabel für die Hersteller, da Produktions- und Logistikprozesse künftig weitestgehend automatisiert und selbstreguliert funktionieren sollen. Manche Textilexperten betrachten die Revolution aber eher als Evolution: Zur Realisierung fehle es derzeit oft noch an qualifizierter Manpower, an gegenseitiger Vernetzung und interdisziplinärer Kooperation. Wenn es um die digitale Abdeckung der gesamten Wertschöpfungskette gehe, seien nicht alle Glieder schon bereit für Industrie 4.0: Nähfabriken in China vielleicht, nicht aber in Äthiopien oder Ungarn. Gerade die Textilindustrie brauche also branchenspezifische Lösungen.
Dass diese möglich sind, zeigen inzwischen immer mehr 4.0-Vorreiter. In seiner fast komplett automatisierten Speedfactory kann Adidas Turnschuhe – nach einer Laufbandanalyse des Kunden am Point of Sale – in wenigen Stunden statt in vielen Monaten entwerfen und teils per 3D-Druck fertigen. Firmen unter Leitung der Deutschen Institute für Textil- und Faserforschung Denkendorf (DITF) demonstrieren mit ihrer Microfactory, wie eine integrierte Produktionskette für Bekleidung funktioniert, und fertigen Pullover oder T-Shirts anhand von 3D-Simulationsmustern an einem halben Tag – individuell und rentabel auch in Losgröße eins. Das Projekt lässt sich als Paradebeispiel für den Wissensaustausch und Technologietransfer betrachten, den 4.0-Lösungen benötigen. Und es ermöglicht flexiblere, kundennähere Geschäftsmodelle abseits konventioneller Massenproduktion. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch die renommierte deutsche Elite-Universität RWTH Aachen. In einer Lernfabrik 4.0, dem Digital Capability Center (DCC), veranschaulicht das dort ansässige Institut für Textiltechnik (ITA) anhand einer vernetzten textilen Prozesskette, u.a. unter Einsatz von Assistenzsystemen wie die digitale Transformation gelingen kann.
Auf dem Weg zur voll-vernetzten digitalen Fabrik
Und somit kommen wir vom Endverbraucherprodukt zur eigentlichen Produktion und letztlich zu den Textilmaschinenherstellern. Sie setzen ebenfalls auf die Digitalisierung und treiben die Entwicklung einer ganzen Industrie intensiv voran. Das Szenario der Zukunft: In der komplett vernetzten Fabrik 4.0 ist die Textilproduktion von der Zulieferkette bis zum Versand autonom geregelt. Das entstehende Produkt steuert und überwacht die Prozesse über eingebettete Sensorik selbst. Der Fertigungs- bzw. Auftragsstatus ist jederzeit bekannt, Rohstoffe werden automatisiert nachbestellt, Verschleiß und Wartung sind im Produktionszyklus eingeplant, Fehlabläufe werden erkannt, behoben oder angezeigt. Dies soll Kosten sparen, Produktionslinien flexibler umstellen sowie Stillstände und Abfall reduzieren helfen. Dafür muss der Maschinenbau entsprechend intelligente und internetfähige Produktionssysteme bereitstellen, die drahtgebunden oder drahtlos kommunizieren können. Keine einfache Aufgabe, denn es gilt dabei Schnittstellen zwischen allen beteiligten Systemen zu schaffen, exorbitante Datenmengen zu sammeln, zu kanalisieren und in Echtzeit auszuwerten.
Erste Schritte in diese Richtung sind bereits getan – ganz vorne mit dabei: Oerlikon. Oerlikon Barmag etwa ermöglicht es mit seinem Plant Operation Center (POC) zur Prozessüberwachung, vorhandene Produktionsdaten an einer zentralen Stelle zu sammeln und verfügbar zu machen. Zur ITMA ASIA +CITME 2018 in Shanghai, China, gibt das Unternehmen zudem einen Ausblick auf eine Entwicklung, die auf Basis von Maschinendaten Fehlerbilder bzw. Abweichungen erkennen sowie Diagnose-Support und Abhilfe mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) anbieten soll. Eingeführt hat Oerlikon bereits ein Assistenzsystem auf Basis einer Mixed-Reality-Brille (Microsoft HoloLens), das Konzepte zur vorausschauenden Instandhaltung (Predictive Maintenance) unterstützt und virtuelle 360-Grad-Touren durch Spinnanlagen ermöglicht. „Der Markt sucht zunehmend intelligentere Maschinentechnik, um Produktionsdaten schneller gewinnbringend sammeln und auswerten zu können. Diesen Trend nehmen wir auf und präsentieren Lösungen in einer neuen, digitalen Welt“, sagt Markus Reichwein, Leiter Produktmanagement im Oerlikon Segment Manmade Fibers.
Digitale Visionen erfordern Qualifikation von Mitarbeitern
Die digitalen Visionen deuten auf eine Zukunft, in der die Verbraucher ihre textilen Produkte in deutlich höherem Maße mitbestimmen können. Neue Geschäfts- und Produktionsmodelle zeichnen sich ab, die auch kleinere Stückzahlen rentabel machen. Speziell dafür könnten auch Hochlohnländer wieder attraktive Fertigungsstandorte werden. In den smarten, weitgehend automatisierten Fabriken werden menschliche Arbeitskräfte nicht überflüssig, meinen Experten. Jedoch übernehmen sie andere Aufgaben, teils auch im Rahmen neu entstehender Berufsbilder. Vor diesem Hintergrund sind die Qualifizierung von Arbeitskräften sowie deren positiver (oder negativer) Blick auf die Chancen der Digitalisierung mitentscheidend dafür, wie schnell die Textilwelt in ihre digitale Zukunft unterwegs ist. Auch Datenschutz und Datensicherheit erzeugen viele Fragen, die das revolutionäre 4.0-Tempo drücken könnten. Letztlich hängt also vieles von den Textilunternehmen selbst und ihrer Fähigkeit ab, sich und ihre Mitarbeiter für die Chancen der Digitalisierung zu öffnen und aufzustellen.