Professor Schneider, Sie beschäftigen sich mit smart materials, also »schlauen Materialien«. Was versteht man darunter?
Schlaue oder »intelligente« Materialien sind ein sehr breites Feld und eng verknüpft mit den ganz großen Fragestellungen unserer Zeit – Umwelt, Energie, Mobilität und Gesundheit. Generell versteht man darunter Materialien, die auf veränderte Bedingungen reagieren, ohne dass der Mensch eingreifen muss. Ich selbst beschäftige mich mit den sogenannten Self-Reporting Materials – Materialien, die kommunizieren.
Kommunizierende Materialien – was kann man sich darunter vorstellen?
Da gibt es ein gutes Beispiel: Wenn Sie zum Arzt gehen, misst der verschiedene Vitalfunktionen Ihres Körpers – Herzschlag, Blutdruck, und so weiter. Anhand dieser Messungen erkennt er, wie es Ihrem Körper geht. Ähnlich funktionieren die Self-Reporting Materials. In Zukunft können Werkstoffe und sogar ganze Maschinen »berichten«, wie es ihnen geht.
Die Grundlage unserer Forschung sind die sogenannten selbstheilenden Materialien. Eines der Grundprobleme von technischen Konstruktionen ist die Materialermüdung. Nehmen wir beispielsweise eine Flugzeugturbine: Die Komponenten der Turbine werden durch Sand und andere Partikel in der Luft stark in Mitleidenschaft gezogen, und mit der Zeit entstehen Risse in der Oberfläche. Wird nun in die Oberflächenbeschichtung ein sogenannter »healing agent« eingebracht, reagiert dieser, sobald sich ein Riss öffnet und der »healing agent« auf Sauerstoff trifft. Durch diese chemische Reaktion wird der Riss selbständig geschlossen und damit geheilt.
Sofern dieser »Heilungsprozess« eine Eigenschaftsänderung bewirkt, die sich messen lässt, ist es dann nur noch ein relativ kleiner Schritt hin zu kommunizierenden Materialien.
Wie kommunizieren diese Materialien denn?
Hier gelang uns ein erster Durchbruch 2003, als wir ein Material synthetisieren konnten, das durch chemische Modifikation magnetisch wird. Die Magnetisierung, das heisst die Stärke des magnetischen Signals, liefert uns dann sozusagen einen Bericht zu den Vitalfunktionen: Je weiter der »Heilungsprozess« fortgeschritten ist, umso weniger magnetisch ist es (vorausgesetzt, die Heilungsprodukte tragen nicht zum magnetischen Signal bei). Das Prinzip ist ähnlich wie bei einem altmodischen Kassettenrekorder, der Informationen auf den magnetischen Kassettenbändern in Musik umwandelte.
Was bedeutet das für die Industrie?
Selbstheilende und kommunizierende Materialien stellen für die Maschinenkonstruktion einen Paradigmenwechsel dar. Wenn sich Werkstoffe selbst heilen und Materialien und ganze Maschinen über ihren Zustand berichten, können die Konstrukteure härter »ans Limit« gehen. Reserven, die heute nötig sind, müssen kaum oder überhaupt nicht mehr einberechnet werden. Konkret heisst das, dass Komponenten und Maschinen leichter werden, entsprechend muss beispielsweise bei einem Auto oder einem Flugzeug weniger Masse bewegt werden, und das führt zu deutlichen Einsparungen, etwa bei Treibstoffen.
Ich denke aber auch an andere Möglichkeiten, wenn Maschinen oder Geräte aktiv kommunizieren können. Ein Bohrer, zum Beispiel, könnte Bescheid geben, bevor seine Standzeit abläuft – idealerweise direkt beim Beschichtungsunternehmen, und nicht nur beim Anwender. Oder eine Windenergieanlage meldet dem Ingenieur auf sein Mobiltelefon, dass sie gewartet werden muss; der Mechaniker muss also erst dann in Aktion treten, wenn es wirklich nötig ist – bei seinem relativ exponierten Arbeitsort liegt der Vorteil auf der Hand.
Kommunizierende Materialien bedeuten also auch, dass die heute üblichen periodischen Wartungsintervalle entfallen können – der Mensch muss erst dann eingreifen, wenn es wirklich nötig ist.
Wird diese Zukunft auch das Berufsbild des Materialwissenschaftlers beeinflussen?
Und ob! Wir sprechen ja heute schon von der »Industrie 4.0«, bei der alles miteinander kommuniziert, alles miteinander vernetzt ist. Es werden Unmengen von Daten erhoben, und in Zukunft wird die Industrie dank dieser Daten noch viel präzisier arbeiten als heute, alles wird »nach Plan« laufen, und die Ressourceneffizienz maximiert. Das birgt für die Industrie ein enormes Potential. Aber bereits heute sehen wir, dass diese Datenmengen nicht immer optimal genutzt werden. Das heisst, wir müssen die Daten nicht nur erheben, sondern die relevanten Daten auch kritisch durchleuchten, damit Prozesse und Werkstoffe optimiert werden können. In der Verbindung von Materialwissenschaften und Daten – sowohl Material- als auch Produktions- und Performancedaten – wird ein neuer Berufszweig entstehen, ein neues Profil für den Materialwissenschaftler: Es wird nicht mehr reichen, das Material zu kennen, Simulation und Datenanalyse werden immer wichtiger werden. Eine große Herausforderung ist sicher die Datenanalyse und das Herausfiltern derjenigen Daten, die performance-definierend sind.
Das klingt jetzt aber ziemlich trocken…
(lacht) Nun ja, zugegeben: In den letzten Jahrzehnten wurde in der Materialwissenschaft und Werkstofftechnik mehr und mehr gerechnet. Das ist anspruchsvoll und oft nicht einfach zu vermitteln. Trotzdem haben wir keine Nachwuchssorgen! Allein in diesem Jahr haben sich fast 250 Erstsemester in Aachen in einem Studiengang im Bereich Werkstofftechnik eingeschrieben. Unsere Doktoranden werden teilweise noch vor ihrer Promotion von Unternehmen unter Vertrag genommen.
Die Universitäten im deutschsprachigen Raum praktizieren die Einheit von Forschung und Lehre. Das ist ein unschätzbarer Vorteil, wenn es darum geht, dicht an neuen Entwicklungen und den Bedürfnissen der Industrie zu sein. In Aachen werden Lehrende berufen, die sich mit neuen Themen befassen, und diese so an die Studenten weiter geben – der Kreislauf schließt sich. Und das ist auch beim Thema Smart Materials so.
Und wie sieht die Zukunft der Materialwissenschaften aus – sagen wir im Jahr 2040?
Natürlich kann ich nicht in die Zukunft blicken – aber es gibt da ein Thema, das unglaublich spannend ist, allerdings auch sehr wenig vorhersagbar. Und es wird uns alle beschäftigen: die breite Thematik der Werkstoffe in Verbindung mit Gesundheit und Medizin.
Vor kurzem habe ich einer Prüfung beigewohnt, in der der Doktorand einige Thesen zur Herstellung von menschlichen Organen mittels 3D-Druck aufgestellt hat. Spinnt man diese Idee weiter, gelangen wir bald zu einem Punkt, wo sich der Mensch seine »Ersatzteile« selbst druckt – eine Niere hier, ein Auge dort – und so eventuell 150 Jahre alt werden kann, oder sogar mehr. Von da zum Cyborg ist es dann nicht mehr weit.
Natürlich ist das noch weit in der Zukunft. Doch bereits jetzt arbeiten Materialwissenschaftler an Oberflächenlösungen für Implantate, die im menschlichen Gehirn eingebaut werden können. Dort messen sie Hirnströme, mit denen ein Roboter gesteuert werden kann – oder mit Hilfe derer ein Tetraplegiker, der weder Arme noch Beine bewegen kann, seinen Rollstuhl bedienen könnte. Wie »Cyber Engineering« die menschliche Entwicklung verändern wird, ist nicht vorhersehbar.
Wie gesagt, das sind Zukunftsszenarien, die wir alle wohl nicht mehr erleben werden. Aber es sind Fragen, mit denen sich die Materialwissenschaft bereits heute auseinander setzen muss – auch in ihrer moralischen Implikation.
Professor Schneider, wir danken für das Gespräch!